• TRADITIONEN WEITERSTRICKEN

    KATHARINA HOGENKAMP JOURNALIST AND TRANSLATOR

    Die in London lebende deutsche Journalistin und Übersetzerin Katharina Hogenkamp beschäftigt sich mit Mode und Nachhaltigkeit in Europa und der Welt. Für thewearness.com erzählt sie in ihrer neuen Kolumne von den Herausforderungen der Wegwerfgesellschaft, der Kraft der Gemeinschaft, und wie sie andere Frauen zur Veränderung inspirieren.

    Im dritten Teil ihrer Kolumne schreibt sie über die Strick-Leidenschaft ihrer Mutter und warum sie es schade findet, dass traditionelle Handarbeiten in unserer Gesellschaft zwar eine große Wertschätzung genießen und doch immer mehr in Vergessenheit geraten.

    Linke Masche, rechte Masche, abketten: Ich sehe es in letzter Zeit immer wieder in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit oder nachmittags in einem Café – Menschen, die in aller Seelenruhe stricken. Auch meine Mutter findet Handarbeiten beruhigend. Und wenn ich ehrlich sein soll, beneide ich sie um ihr Talent und auch um ihre Geduld.

    Früher habe ich meine Mama oft dabei beobachtet, wie sie Kleidung und Accessoires für mich und meinen Bruder von Hand fertigte oder reparierte. Pullover, Mützen, Cardigans, Schals und Socken, die ganze Bandbreite eben. Auch heute strickt sie noch regelmäßig im gemütlichen Sessel vor dem hauseigenen Kamin. Dabei entstehen ganz individuelle Kreationen. Letztes Jahr bekam ich einen pinken Strick-Bikini von ihr geschenkt – optimal zum Sonnen. Schade nur, dass man vom britischen Sommer meistens nicht so viel erwarten kann.

    Inspiriert war der Look von den 60er-Jahren. Meine Vorstellung: Françoise Hardy am Strand von St. Tropez. Die Swinging Sixties waren schon immer eine modische Inspiration für mich, so auch in diesem Herbst. Während draußen die Temperaturen sinken, sehne ich mich nach kuscheligen Strick-Pieces. Ich denke da an ein kurzes Wollkleid, das die Schauspielerin Natalie Avelon in ihrer Rolle als Uschi Obermaier in einer der ersten Szenen meines Lieblingsfilms Das wilde Leben trug. Der Stil der 1968er-Ikone ist der Grund, weshalb ich mich seit Wochen durch Online-Verkaufsplattformen wie eBay oder Etsy klicke. Ich bin auf der Suche nach dem perfekten Secondhand-Minikleid. Gestrickt soll es sein und in schmeichelhafter A-Linie mit leicht ausgestellten Ärmeln. In modischer Hinsicht wusste ich schon immer, was ich wollte und was nicht. Die Suche blieb weitestgehend erfolglos, da erinnerte ich mich an meinen Bikini – Marke Mama. Ich dachte: Was könnte schöner sein, als ein selbstgestricktes Kleid?

    Ich recherchierte weiter online. Dieses Mal nach Musterheften. Es standen Dutzende zur Auswahl, und irgendwann fand ich sogar ein Magazin aus DDR-Zeiten. Ja, Sie haben richtig gelesen, in den Tiefen des Internets tun sich manchmal ziemlich verwunderliche Sachen auf.

    Meine Devise lautet daher immer: Wer sucht, der findet. Das gilt besonders für alles, was mit Secondhand oder umweltfreundlichen Alternativen für den Alltag zu tun hat. Wir müssen nicht bei jedem Projekt das Rad neu erfinden, sondern uns hier und da auf altbewährte Mittel zurückbesinnen.

    Das Stricken hat eine lange Tradition und auch eine lange Geschichte. Es wird bis heute vermutet, dass die Technik älter als das Weben ist und seinen Ursprung im Nahen Osten im Hochmittelalter hatte (11. bis 13. Jahrhundert). Man nimmt an, dass die Kunstfertigkeit der Handarbeit dann über die Seidenstraße nach Europa gebracht worden sei. Genau lassen sich die Herkunft und der Zeitpunkt jedoch nicht bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass sich hochwertige Strickwaren aus reinen Naturfasern mit der Zeit auflösen. Moderne Strickmode wird dagegen meistens aus einem Mischgewebe gefertigt. Darunter versteht man eine Textilart, die zumindest zum Teil aus synthetischen Chemiefasern besteht. Oftmals werden zum Beispiel natürliche Baumwolle oder Mohair mit Polyacryl oder Polyamid gemischt. So werden zusätzliche Fasereigenschaften erreicht und das Garn robuster, damit aber auch schwerer abbaubar gemacht. Hinzukommen teils giftige Chemikalien, die zum Binden der Farbpigmente in Kleidung eingesetzt werden, darunter Halogenverbindungen oder Schwermetalle wie Blei. Klingt gruselig? Finde ich auch! Und von den Folgen für unsere Gesundheit brauche ich gar nicht erst anfangen.

    Für mein Strickkleid im 60er-Stil haben meine Mama und ich deshalb gemeinsam nach einer umweltfreundlicheren Alternative gesucht. Im Idealfall sollte es sich um reines Kaschmirgarn handeln, das auf natürliche Weise bezogen, verarbeitet und gegebenenfalls gefärbt worden war.

    Und wissen Sie was? Das ist heute äußerst schwer zu finden und erst recht nicht günstig. Außerdem sind nur wenige Marken zu hundert Prozent transparent, was den Herstellungsprozess betrifft.

    Seine Wurzeln hat die begehrte Kaschmirwolle übrigens im hochgelegenen Kaschmirtal in der nordindischen Region Jammu-Kaschmir. Nomadenvölker schützten sich bereits vor über 3000 Jahren mit dem außergewöhnlich wärmenden Fell der Kaschmirziege bis sich das luxuriöse Gewebe in die westliche Welt verbreitete. Luxuriös deshalb, weil nach wie vor nur wenige Orte für die Haltung der Kaschmirziege in Frage kommen. An der Spitze der Herkunftsländer für die edle Faser stehen China und Tibet sowie die Mongolei und Nepal. Die Zucht ist aufwendig und die Transportwege nach Europa lang.

    Für ein komplett nachhaltiges Strickkleid müsste ich vermutlich meine eigene kleine Kaschmirziegen-Farm führen. In London? Schwierig. Im familieneigenen Garten? Weniger. Ich kann mir meine Mama beim Stricken im Sessel, nicht aber als Hirtin vorstellen.

    Insbesondere in der kalten Jahreszeit dient das Stricken als eine Beschäftigung, die man gemütlich auf dem Sofa alleine oder mit Freunden ausführen kann. Wir können die Zukunft selbst mitgestalten und unseren Kindern davon etwas weitergeben. Mein Traumkleid ist nicht einfach nur ein Kleid, sondern der (Weihnachts-)Wunsch nach dem Wiederentdecken der magischen Verbindung zwischen Mensch und Natur. In einem bekannten Märchen heißt es: „Weißt du, was das Problem mit dieser Welt ist? Jeder erwartet eine magische Lösung für seine Probleme, aber niemand glaubt an die Magie.“ Vielleicht lohnt es sich allein aus diesem Grund, alte Traditionen künftig weiter zu stricken und dem Wunder mit offenen Armen (beziehungsweise mit der Stricknadel) zu begegnen.

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